Wohnraum

Der Rückweg zu dem Waisenhaus war schnell hinter sich gebracht, nicht auch deswegen, weil sie es eilig hatten – so mussten doch die Kinder und Arthur verarztet werden. Und sobald sie angekommen waren, wurde Letzterer von Miss Fiana auch gleich in Beschlag genommen, nachdem sie ihre Hysterie ausgelebt hatte und sich sowohl freute über die unversehrte Rückkehr der Kinder, als dass sie auch verärgert schien über die Umstände. Dennoch wollte sie unbedingt Arthurs Wunden versorgen. Bruce hatte nichts dagegen einzuwenden; im Gegenteil. So überließ er Arthur seinem Schicksal und ließ ihn bei der alten Dame zurück, während die Kinder ebenfalls von anderen Mitarbeitern versorgt wurden.
Nachdem Bruce die wichtigsten Kernaussagen und Geschehnisse einer weiteren Mitarbeiterin geschildert hatte, damit die Angestellten über eben jene im Bilde waren – wobei er bewusst auf eine Erwähnung des dritten Chains verzichtete – hatte er sich in den Wohnraum des Hauses zurückgezogen, wo die meisten Kinder sich zu dieser Zeit aufhielten; lernten und spielten.
Bruce hatte sich mitsamt seines Koffers zu den Kindern gesetzt und ihnen den Inhalt gezeigt. Immer mehr neugierige, aufgeregte Kinder sammelten sich um diesen und betrachteten mit leuchtenden Augen das neue Spielzeug, das sich darin befand. Bruce hatte es aus dem Ausland mitgebracht. Es waren nicht viele Sachen, aber sie waren besonders und ganz neu. Teddys, Puppen, kleine Autos aus Holz – jedes Kind schien etwas Spannendes für sich zu entdeckten und sofort entfachte eine hitzige Diskussion unter den Kleinen, wer womit spielen dürfte. Mit einem gutmütigen Lächeln beobachtete er die wilde Kinderschar und wie sie sich über die neuen Spielzeuge freuten. Er selbst hatte eine zusammengeknüllte Tüte, in der sich ebenfalls ein Spielzeug befand, zu Seite gelegt – dies war nicht für die Kinder.
Die kleine Helen kam auf ihn zu, nachdem sie versorgt wurde und fragte ihn um Hilfe, wie eines dieser Spielzeuge funktionierte. Mit weicher Stimme zeigte und erklärte er es ihr.

Zunächst hatte Bruce die Anwesenheit seines Dieners gar nicht mitbekommen. So erging es ihm oft, wenn er in etwas vertieft war und sich auf seine Tätigkeit ganz besonders konzentrierte. Meist vergaß er dann alles andere, was um ihn herum geschah, so wurde er auf Arthur auch erst aufmerksam, als dieser ihn direkt ansprach; nachdem Bruce seine wichtigsten Dokumente und Akten wieder zurück in den, nun leeren, Koffer verschlossen hatte.
Er wandte sich zu seinem Diener um und musterte diesen analytisch. Er wirkte nun schon wesentlich ausgeruhter, auch wenn da noch einiges mehr an Erholung nötig war.
„Wieso warst du so unachtsam? Lässt dich von einer großspurigen Diebin mit einem Stein erschlagen? Eigentlich erwarte ich ein bisschen mehr Professionalität von dir.“, sagte er. Schon klar; Arthur wollte nett sein – das wollte er immer. Doch grade dieses Verhalten konnte ihm auch zum Verhängnis werden; so wie heute. Doch lag, abgesehen von seiner standardmäßigen Höflichkeit, vielleicht noch ein anderer Grund dahinter?
„Eine gewisse Distanz zu wahren, sowohl räumlich als auch emotional würde dich vor solchen Fehltritten demnächst schützen. Das heißt natürlich nicht, dass du überhaupt keine Gefühle mehr haben darfst, nur fühl dich bitte nicht für Alles und jeden verantwortlich. So ein Verhalten hält nur auf.“, fügte Bruce erklärend hinzu. Kaum zu glauben, dass er Arthur immer noch derartige Hinweise aushalf, jetzt wo sie mittlerweile erwachsen waren; dass das immer noch notwendig war. Ein wenig nervte ihn das schon. Damals, kaum das Arthur zu ihm gestoßen war und sich erst in dieser neuen Zeit zurecht finden musste, hatte Bruce gefühlt ständig war an seinem neuen Diener zu bemängeln gehabt. Letzlich hatte er sich doch immerzu bemüht und war ihm, bis heute, ein treuer Gefolgsmann.
„Hat es etwas mit den Illusionen zu tun, die wir in Sablier gesehen haben? Ich fragte mich dort, ob du aufgeben würdest was du hast, um zurückzubekommen, was du verlorst.", fragte er indirekt.
Bruce selbst hatte sich diese Frage einst jeden Tag gestellt, obgleich die Antwort jedes Mal von vornherein feststand und es auch immerzu dieselbe war.
Um Hayley wieder zurück bei sich zu haben, würde er sein Leben – wie es jetzt war – aufgeben, ohne zu zögern. Andererseits wollte er denjenigen, der für das Leid seiner Familie verantwortlich war – ganz gleich ob Vessalius oder Kopfjäger – nicht ungestraft davon kommen lassen; egal in welchem Leben. Letzten Endes, gab es auf diese Frage wohl keine eindeutige Antwort. Wie wohl Arthur das sah?

Zunächst war Bruce zufrieden mit der Antwort seines Diner, auch wenn er ein wenig überumpelt zu sein schien, dass er ihn an diesem Ort noch darauf ansprach. Allerdings erwähnte Arthur etwas, worüber Bruce sich wunderte.
"Hast du nicht?!", wiederholte er überrascht. Selbst Bruce hatte mitbekommen, dass die Frau sich einen Stein zu Hilfe genommen hatte und das, obwohl er eher dazu neigte seine Umgebung außer Acht zu lassen – weswegen er seinen Diener auch nicht rechtzeitig hatte warnen können. Arthur jedoch kannte er eigentlich als eine aufmerksame Person; grade das war doch eine von mehreren positiven Eigenschaften an dem Brillenträger. Bruce verfiel in ein skeptisches Schmunzel und nickte langsam als Arthur ihm aber versicherte, dass er an sich arbeiten würde. Bruce wusste, ohne Zweifel, dass er das auch tun würde; war sein Diener zudem doch eine äußerst ehrliche und verlässliche Seele – zumindest kannte er ihn so.
Seine schnelle Antwort auf Bruces nächste Frage jedoch, ließ ihn erneut aufhorchen. Nicht etwa, weil er mit dieser Antwort nicht gerechnet hätte, sondern weil sie unerwartet schnell von ihm kam. Bruce hatte gedacht, Arthur müsste erst darüber nachdenken, abwägen, doch das Gegenteil war der Fall.
Die passende Erklärung ließ, dann aber tatsächlich doch einie Sekunden auf sich warten, fiel ihm diese aber schwerer. Verständlich. Dennoch hörte er geduldig zu.
Seine Äußerung jedoch, dass es gemein wäre Arthur an grade diesem Ort darauf anzusprechen, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln – nicht sein Arbeits-/ Geschäftslächeln; es lag eine gewisse Wärme darin, etwas was man eher selten bei dem Schwarzhaarigen sah. Tatsächlich hatte Bruce diesen Zusammenhang nicht bewusst wahrgenommen, doch kam er auf dadurch auf einen anderen Gedankengang.
"Arthur, Räume und Orte haben mitunter die schlimmste manipulative Wirkung – ohne, dass wir uns dessen wirklich immer bewusst sind.", sagte er und drückte seinem Diener jenes kleines Paket in die Hand, welches er vorhin noch vor der Neugier der anderen Kinder bewahrt hatte. In dem zerknüllten Papier, welches lediglich zum Schutz des Inhalts diente, verbarg sich ein weiteres Spielzeug* – natürlich nicht für Arthur selbst. Es war ein weiteres kleines Mitbringsel.
Sablier durfte das Paradebeispiel sein für eine manipulative Wirkung, im Grunde aber konnte das jeder andere Ort ebenso. Je nach den Erfahrungen und emotionalen Zusammenhängen, die Mensch dorthin mitbrachte. In diesem Fall hatte Sablier in Bruce teilweise Neugier erweckt; zumindest seit dem ungewöhnlichen Treffen mit dem seltsamen, dritten Chain.

Arthur schien ihn und seine Aussage wohlverstanden zu haben und so ging Bruce auch nicht weiter auf dessen Äußerung ein. Er nickte nur verständlich und verfolgte – angeregt durch Arthurs Frage, was er als Nächstes tun wolle – seine eigenen Gedanken; sowie er seinen Blick durch den Raum gleiten ließ, indem die Kinder sich noch immer mit dem neuen Spielzeug amüsierten.
Er erinnerte sich daran, wie er auf der anderen Seite des Meeres einen äußerst gebildeten Mann getroffen hatte, der ihn erst auf diese Idee brachte, da er der Überzeugung war, dass Kinder sich vor allem durch einen entwicklungsentsprechenden Spielprozess selbst bildeten und als Erwachsener war man dazu da, um sie dahingehend zu unterstützen – eine neue, revolutionierende Idee, die von einem Visionär kam und doch sehr vielversprechend klang. Diese Idee jenen Mannes hatte Bruce auch dazu gebracht, die Grundrisse eines Plans zu entwerfen, um das Waisenhaus der Nightrays neu aufzubauen und das gesamte Handlungskonzept neu zu überdenken. Sicher würde er noch einmal mit jenem Mann Kontakt aufnehmen müssen und ohnehin warten, bis ihm sein Nachfolger, seines ehemaligen Arbeitsplatzes, seine restlichen Unterlagen nachschickte aber, wenn es dann soweit war, würden die Nightrays die ersten sein, die dieses neue Konzept erfolgreich umsetzten und durch ihre flexiblen Fach- und Handlungskompetenzen einen ersten Meilenstein in Sablier erreichen würden, der die anderen Herzogsfamilien – insbesondere die Vessalius – in den Schatten stellen würde.
Doch das war ein Vorhaben, das sich nicht heute erledigen ließ. Es war ein langer Prozess, der gründlich überdacht und weit vorausgeplant werden musste.
„Es wird wohl allmählich Zeit, dass wir zur Villa zurückkehren. Die gröbsten Dinge sind hier jetzt geklärt.“, antwortete Bruce. Tatsächlich freute er sich darauf, seine eigene Familie bald wiederzusehen und endlich nach Hause zu kommen.